Nov 25, 10 Jahren ago

„Mittelgroßes Wunder“: SV Hermsdorf gewinnt trotz 9-Tore-Rückstand

Handball Männer, Mitteldeutsche Oberliga: Hermsdorfer liegen gegen Spergau mit neun Toren zurück, gewinnen aber noch

Hermsdorf. Wer am Sonnabend nicht in der Werner-Selenbinder-Sporthalle in Hermsdorf war und das nackte Ergebnis von 29:27 für die Handballer des SVH gehört hatte, wird vielleicht mal kurz „Aha“ sagen, mit dem Kopf nicken und zur Tagesordnung übergehen.
Wer aber einer der 450 Zuschauer war, und das 29:27 live verfolgte, wird wohl auch noch in den nächsten Jahren von diesem Spiel schwärmen. Dieses Spiel am 22. November 2014 toppte sogar noch die wahnsinnige Schlussphase im Final-Four-Halbfinale am 1. Mai 2010, als der SV Hermsdorf und den letzten 241 Sekunden gegen den damaligen Dauer-Rivalen HSV Ronneburg einen 25:30-Rückstand in einen 31:30-Sieg verwandelte.
Dass, was am Sonnabend in den zweiten 30 Minuten in Hermsdorf passierte, das konnten selbst die Protagonisten, die Hermsdorfer Spieler, nach dem Spiel nicht erklären.
„Irre“, „Geil“, „Das gibt’s doch nicht“, „Was ist dann da passiert“, so oder so ähnlich ging es wohl den meisten der Zuschauer. Zur Halbzeit führte der Gast, die SG Spergau, 18:11, weil die Heimmannschaft vom SV Hermsdorf fast alles verkehrt machte, was man verkehrt machen konnte.
Was dann in der Kabine der Hermsdorfer los war, was dort offenbar für magische Worte fielen, bleibt das Geheimnis der Spieler und Trainer. Es folgten die wohl verrücktesten 30 Minuten, die Handball-Hermsdorf in den letzten zehn, vielleicht sogar 20 Jahren bei einem Spiel einer ersten Männermannschaft in Hermsdorf geboten bekam.
Die Gastgeber kamen ins Spiel zurück, „weil meine Mannschaft Charakter gezeigt hat. Sie wollte sich nicht vor dem Heimpublikum so abschlachten lassen, wie das teilweise in der ersten Halbzeit der Fall war“, sagte SVH-Trainer Mario Kühne.
Was er an der Außenlinie ab der 30. Minute durchmachte, welche Höhen und Tiefen er erlebte, das ging auch an ihm nicht spurlos vorbei. Minuten nach dem Abpfiff saß er auf der Bank, auf seinem Schoß saß sein Sohn, und Kühne war gezeichnet. Er gestand: „Ich bin fix und fertig, ich habe Kopfschmerzen.“
Die Stimmung, die Atmosphäre war in der zweiten Halbzeit wie aufgeladen. Es knisterte bei jeder Aktion, bei jeder Entscheidung der Schiedsrichter. Wenn selbst ein so ruhiger, besonnener Torwart Petr Nedved die Fassung verliert und nicht nur lautstark diskutierte, sondern auch vor Frust seinen rechten Fuß mit einem Ausfallschritt an die Torlatte donnerte, müssen die Nerven blank gelegen haben.
Nedved war mit der Entscheidung der Schiedsrichter nicht einverstanden. Dieser Temperamentsausbruch war zu viel. Nedved musste für zwei Minuten vom Feld. Für ihn kam sein Torwart-Kollege Robert Zehmisch zurück. Der Nedved-Ausraster war, so meinte es auch Trainer Kühne später, möglicherweise der Knackpunkt. Es war die 38. Minute. Die Gäste führten 20:15. Den ersten Ball musste Zehmisch noch aus dem Netz holen. Spergau lag beim 21:15 wieder mit sechs Toren vorn. Es begann die 40. Minute, und der Handball-Wahnsinn nahm seinen Lauf. Matej Fazik, Eric Fischer und Stefan Riedel donnerten die Bälle ins Gäste-Tor. Es stand nur noch 18:21 aus Sicht der Heimmannschaft. Hallensprecher Raf Kühne, Vater des SVH-Trainers, peitschte die Zuschauer nach vorn. Ähnelte das Zuschauerverhalten bis zu diesem Zeitpunkt eher einem Operetten-Publikum, übertrug sich die Dramatik vom Spielfeld auf die Ränge.
Nach einem Oberkörper-Check gegen Fischer gab es Strafwurf. Hannes Rudolph, der mit Beginn der zweiten Halbzeit ins Spiel kam, schaffte das 21:21 (48.). Kurze Zeit später führte wieder der Gast. Was keiner wissen konnte, das 22:21 war die letzte Führung. Martin Ehm – 22:22, Fischer per Konter – 23:22 und Wendt zum 24:22. Die 50. Minute lief, Hermsdorfs hatte ein verlorenes Spiel gedreht. Zehmisch vernagelte förmlich seinen Kasten.. Drei Siebenmeter parierte er bis zum Schluss. Als Rudolph vom Punkt auf 28:24 erhöhte, war das mittelgroße Wunder, wie es Zehmisch später formulierte, geschafft. „Wir haben 11:7 Punkte. Jetzt fahren wir zum HC Burgenland. Diese Mannschaft hat heute den Tabellenführer geschlagen. Vor uns liegt eine schwere Aufgabe. Ich bin mir sicher, dass Burgenland Respekt vor uns haben wird, wenn es erfährt, was heute hier los war“, sagte Mario Kühne.
SVH: Zehmisch, Nedved – Rudolph (3), Fischer (2), Kovasz (1), Schreck, Högl (8), Wendt (2), Riedel (4), Heilwagen (2), Ehm (4), Seime, Fazik (3).

Jens Henning / 24.11.14 / OTZ

Mit Faziks Tor wird die Wende eingeläutet
Handball Das Spiel im Stenogramm

Hermsdorf: Das Heimspiel der Oberliga-Handballer des SV Hermsdorf am Sonnabend gegen die SG Spergau wird in die Hermsdorfer Vereinsgeschichte als eines der ganz besondern Spiele eingehen.
In der Vorsaison erlebten die Hermsdorfer bei ihrem Auswärtsspiel am 15. Februar beim HC Einheit Plauen eine ähnliche Dramaturgie. In Plauen führte Hermsdorf zur Pause 14:5, um am Ende noch mit 23:24 zu verlieren.

Stenogramm
* 1:22 Minuten – Die SG Spergau erwischen einen Traumstart. Mit einem Konter gelingt das 7:1.
* 9:07 Minuten – Tobias Högl schafft nach neun Minuten erst das zweite Tor für die Heimmannschaft
* 12:27 Minuten – Es läuft nicht rund beim Gastgeber SVH. Spergau erhöht auf 10:3.
* 19:59 Minuten – Mit dem Treffer zum 14:5 beträgt der Vorsprung zum ersten Mal neun Tore.
* 26:54 Minuten – Typisch für den SVH in der ersten Halbzeit: Henry Wendt lässt den Ball fallen, Matej Fazik greift ins Leere. Auf der Gegenseite führt ein Konter zum 17:8.
* 29:58 Minuten- Martin Ehm schafft mit dem Pausensignal das 11:18.
* 33:01 Minuten – Spergau behauptet den Vorsprung Minuten – 20:13.
* 37:08 Minuten – Die Hermsdorfer senden ein vorsichtiges Lebenszeichen. Fazik verkürzt auf 15:20.
* 38:02 Minuten – Petr Nedved tritt gegen die Torlatte. Die Spielleiter schicken ihn zum Abkühlen auf die Bank. Für ihn rückt Robert Zehmisch in den Kasten.
* 40:10 Minuten – Faziks Tor zum 16:21 läutet die Aufholjagd ein.
* 45:31 Minuten – Als Stefan Riedel den Anschluss zum 20:21 schafft, lässt Hallensprecher Ralf Kühne über die Lautsprecher seinen Emotionen freien Lauf: „Was für ein geiles Spiel.“
* 47:59 Minuten – Hannes Rudolph übernimmt Verantwortung. Vom Siebenmeterpunkt schafft er das 21:21.
* 48:44 Minuten – Spergau hält dagegen. Das 22:21 ist die letzte Führung für den Gast.
* 50:49 Minuten – Henry Wendt bringt den SVH beim 24:22 mit zwei Toren in Führung.
* 51:33 Minuten – Robert Zehmisch pariert einen von drei Siebenmetern
* 54:25 Minuten – Stefan Riedel klaut den Abpraller und vollendet Minuten-27:23.
* 54:59 Minuten – Der Gästetrainer winkt ab und sagt zu seinem Teamkollegen „Hör auf!“
* 56:33 Minuten – Wieder Siebenmeter, wieder Hannes Rudolph, wieder Tor Minuten – 28:24.
* 59:06 Minuten – Auszeit der Hermsdorfer. Der Heimsieg ist perfekt
“ 59:50 Minuten – Mit Henry Wendts Tor zum 29:27 endet das Spiel

SVH-Stimmen

Robert Zehmisch: „Dass, was heute hier passiert ist, dass kann man nicht erklären. Es fühlt sich einfach gut an. Diese 60 Minuten hat die Faszination Handball gezeigt. Diese Faszination kann man nicht in Worte packen, die kann man einfach nur genießen. Heute durfte ich auf der Siegerseite mit stehen. Beim Pokal-Krimi vor vier Jahren, als ich noch beim HSV Ronneburg gespielt habe, konnte ich diese Momente nicht genießen. Vielleicht ist es eine Fügung, dass es heute genau, umgekehrt war. Das ich auf der Seite des Siegers stand, ich habe keine Ahnung.“

Martin Ehm: „Dieser Sieg fühlt sich unglaublich gut an, keine Frage. Warum wir das Ding noch zu unseren Gunsten gedreht haben, kann ich nicht wirklich sagen. Es war wohl die Motivation, den hohen Rückstand aufzuholen. Wir lagen ja daheim mit neun Toren hinten. Das war für uns alle die Höchststrafe. Und dann nimmt das Spiel einen völlig anderen Verlauf. Wir haben diesen erzwungen. Ja und die Spergauer, dass hat man wohl gesehen, die hatten zum Schluss die Hosen voll. Da ging nichts mehr. Bei uns klappte fast alles. Besser kann man eine zweite Halbzeit wohl kaum spielen.“

Jan Heilwagen: „Mir fehlen die Worte. Ich spiele seit 21 Jahren Handball in Hermsdorf, davon das zehnte Jahr in der ersten Mannschaft. Was sich aber beute hier abgespielt hat, das gab es noch nie. Also ich kann mich zumindest nicht an ein ähnliches Spiel erinnern. Da spielen wir einen grottenschlechte erste Halbzeit. Dann schwören wir uns in der Kabine ein. Wir gehen raus aufs Parkett. Und ab der 40. Minute gibt es kein Halten mehr.“

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