Hochdramatisch siegt der SV Hermsdorf über Eisenach II in der Handball-Thüringenliga und erreicht sein Ziel
Marcus Schulze
Neun Tore, darunter das alles entscheidende, und darüber hinaus auch noch Vater geworden: Es läuft derzeit bei Felix Reis. Yvonne Wagner
Hermsdorf Auszeit. 14 Sekunden vor dem Ende der Begegnung reichte Mario Kühne beim Kampfgericht jene grüne Karte ein, die ein großgeschriebenes „T“ ziert. Der Trainer des SV Hermsdorf nutzte die Option, um kurz vor Ultimo noch einmal all seine Handball-Pappenheimer zu instruieren – und das aus gutem Grund, schließlich lautete der Spielstand zu jenem Zeitpunkt der Begegnung zwischen den Kreuzrittern und dem ThSV II 29:29. Ergo: Die Kreuzritter hatten möglicherweise nur noch eine Chance…
Zwei Sekunden vor dem Abpfiff der Begegnung landete der Ball schließlich in den Händen von Felix Reis, der das kleine klebrige Leder auf die Reise gen ThSV-Gehäuse schickte – mit Erfolg. Und somit mutierte sein neunter Treffer an diesem Abend auch zu seinem wichtigsten, ja zum alles entscheidenden Treffer…
Als ein paar flüchtige Augenblicke später die Feierabend-Sirene erklang, gab es schließlich kein Halten mehr; schlagartig lagen sich Spieler, Trainer und auch Betreuer in den Armen und bildeten ein Knäuel da auf dem Spielfeld in der Werner-Seelenbinder-Halle. Ja, für ein paar flüchtige Momente verschwammen förmlich die Konturen; ein Rot-Schwarzer-Wirbelsturm bahnte sich seinen Weg durch die Halle und verschluckte gefühlt jeden SVH-Akteur – Felix Reis, Jan Heilwagen, Daniel Zele, Paul Götze, Hannes Rudolph, Stefan, Riedel, Mario Kühne, Tobias Högl, Marvin Schreck, Sebastian Hammer, Götz Bader, Damian Kowalczyk, Robert Zehmisch und und und.
„Geil, einfach nur geil; ein Mega-Gefühl“, sagte Felix Reis, nachdem sich der Trubel in der Halle ein wenig gelegt hatte. Während er da nun so auf der Bank ausharrte, nippte er dezent an einer Dose, die wohl ein geistiges Getränk enthielt und ließ dabei noch einmal die letzten 14 Sekunden der Partie Revue geschehen…
Im finalen Schlachtplan von Mario Kühne und Tobias Högl sei er als Schütze gar nicht vorgesehen gewesen; den Job sollte eigentlich Jan Heilwagen übernehmen, während er Gegenspieler binden sollte, „doch sie waren doch sehr auf Heile fokussiert; er hat gleich drei Eisenacher gebunden, sodass ich plötzlich frei war – und da kann man das schon einmal machen. Ich war motiviert. Ich hatte Bock zu springen und auch Bock zu werfen“, sagte Felix Reis. Die Holzländer sahen sich die gesamte Partie über nicht ein einziges Mal mit einem Rückstand konfrontiert, führten temporär sogar mit sechs Toren (22:16/37.), doch die Eisenacher ThSV-Reserve kämpfte sich immer wieder heran, insbesondere während der letzten 20 Minuten – und in der 58. Spielminute gelang Eisenachs Ole Gastrocky-Mey der Ausgleich zum 28:28. Felix Reis erzielte gut 90 Sekunden vor dem Abpfiff die erneute Führung (29:28) für die Hausherren, doch Armend Alaj traf gut 36 Sekunden vor dem Ende der Begegnung zum 29:29…
„Irgendwann hat man leider gesehen, dass es um unser Training dieser Tage nicht so gut bestellt ist. Wir lagen mit fünf oder sechs Toren in Führung, doch dann haben wir abgebaut. Am Ende ist die Sache ganz einfach: Haben sich die Kerle an den Schlachtplan von Tobi und mir gehalten: lief es; haben sie indes Standhandball präsentiert: lief es nicht – so einfach war das“, resümierte Mario Kühne, der jedoch auch darauf verwies, dass man das eigentliche Ziel erreicht habe: Man ziehe ohne Minuspunkte in die Play-offs ein.
Auch vor der wichtigen Partie gegen den ThSV Eisenach II war die Personalsituation bei den Kreuzrittern – mal wieder – punktuell prekär. Und erneut bewiesen sie ihre Fähigkeiten als begnadete Netzwerker – und so stand da am Sonnabend plötzlich ein gewisser Tobias Grau auf dem Feld. Der nunmehr 32-Jährige, der für den HSV Apolda spielte und zudem sieben Jahre in den Diensten des HBV Jena stand, trainiert seit gut drei Wochen mit den Hermsdorfern. „Es kam alles recht plötzlich. Ich bekam einen Anruf von Damian, mit ihm habe ich noch beim HBV Jena zusammengespielt, und er fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, in Hermsdorf zu spielen, da Fritz Reis ausgefallen ist“, berichtete Tobias Grau, der vor drei Monaten erstmals Vater geworden ist. Er habe das natürlich mit erst einmal mit seiner Partnerin besprochen, doch am Ende habe sie ihn zu dem Schritt sogar ermutigt. „Die Abläufe passen schon, doch ich muss natürlich noch an meiner Kondition arbeiten“, sagte Grau, der sein letztes Pflichtspiel 2020 absolvierte. Und ja, er sei sehr aufgeregt vor der Partie gewesen. „Ich kenne das Publikum ja noch von den Schlachten mit Apolda und Jena. Jetzt erlebe ich einmal die andere Seite – und es ist einfach nur geil“, sagte der Neo-Kreuzritter.
Im Rot-Schwarzen-Wirbelsturm, der da unmittelbar nach der Partie durch die Halle fegte, vermisste man jedoch zwei zentrale SVH-Akteure: Während Kapitän Martin Ehm auf Krücken der Partie beiwohnte, fehlte Oleksandr Petrov gänzlich. Der Ukrainer hatte wahrlich andere Sorgen, brach er doch die Nacht zuvor auf, um seine auf der Flucht aus der Ukraine befindliche Schwester und ihre drei Kinder nach Deutschland zu holen…
Auch in Hermsdorf wurde sich vor der Begegnung gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen – und in jenen Momenten demonstrierten beide Teams Geschlossenheit.
Ach ja, am Sonnabend berichtete Felix Reis, dass er neun Tage zuvor zum ersten Mal Vater geworden sei – und der Gedanke an sein Söhnlein namens Lasse habe ihn während der Partie gegen Eisenach ungemein motiviert. „Er macht mich unglaublich stolz!